Jusos Rhein-Neckar

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Energiepolitische Erklärung der SPD Baden-Württemberg

Veröffentlicht am 21.03.2006 in Landespolitik
 

Atomausstieg und Energiewende in Baden-Württemberg für industrielle Standortsicherung, Agrar- und Mittelstandsförderung, Kommunalentwicklung und dauerhaften Umweltschutz

Mit der Realisierung des Atomausstiegs und einer auf erneuerbare Energien und die Steigerung der Energieeffizienz ausgerichteten landespolitischen Schwer­punktstrategie werden umfassende wirtschaftliche, ökologische und kommunale Zukunftschancen eröffnet. Es gibt zahlreiche Aktivitäten in Baden-Württemberg, die in diese Richtung zielen:

- Bürger des Landes, die ihre individuelle Energieversorgung auf erneuer­bare Energien umstellen;

- Handwerksbetriebe, Ingenieure und Landwirte, die ihre Zukunft im solaren und energieeffizienten Bauen und in der Rolle des Landwirts als Energiewirt sehen;

- Automobilproduzenten, die die Fahrzeugtechnikentwicklung auf Biokraft­stoffe ausrichten;

- Städte mit ihren Stadtwerken, die mit ihren Projekten in der „Solar-Bundes­liga“ einen vorderen Platz einnehmen.

Sie stützen diese Aktivitäten auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die von der rot/grünen Bundstagsmehrheit zwischen 1998 und 2005 zur Förderung erneuerbarer Energien eingeführt worden sind: das Erneuerbare Energie-Gesetz, die Steuerbefreiung für Biokraftstoffe und die Öko-Steuer.

Im Bereich der Stromversorgung konnte dadurch bundesweit der Anteil erneuer­barer Energien an der Stromproduktion zwischen 2000 und 2005 von 4 auf 10,5% ausgeweitet werden, mit einer jährlichen Zuwachsrate von 1,3%. Insgesamt konnten dadurch 150.000 neue Arbeitsplätze geschaffen und 50.000 erhalten werden. Da durch diese Politik Deutschland die Rolle eines weltweiten industriellen Vorreiters übernehmen konnte, ergeben sich daraus umfassende neue Exportchancen.

Der überragende industrielle Stellenwert der neuen Energietechnologien ergibt sich daraus, dass damit fossile und atomare Primärenergien, die importiert werden müssen, durch Technologie ersetzt werden. Alle Kosten für erneuerbare Energien und Energie-effizienzsteigerungen müssen für Technik und für die Produktion heimischer Bioenergien aufgewendet werden. Sie sinken mit der Massenproduktion und weiteren technologischen Verbesserungen. Dem­gegenüber steigen die Kosten für fossile und atomare Energien unaufhörlich aufgrund steigender Importkosten für Erdöl, Erdgas, Kohle und Uran, zusätzlicher Infrastrukturkosten, steigender atomarer Sicherheits­anforderungen und ökologischer Folgeschäden. Das Festhalten an der konventionellen Energieversorgung gefährdet damit die wirtschaftliche, soziale und ökologische Zukunft.

Im Vertrag zwischen SPD und CDU zur Bildung der Großen Koalition in der Bundes-regierung ist von der SPD durchgesetzt worden, dass es bei der eingeleiteten Förderung erneuerbarer Energien, dem Atomausstieg und der Öko­steuer bleibt und darüber hinaus verstärkte Anstrengungen ergriffen werden für die energetische Altbausanierung, ein Wärmegesetz zur Nutzung erneuerbarer Energien in Neubauten und zur Förderung der Energieeffizienz in der Geräte­technik.

Die alte Landesregierung als Bremser erneuerbarer Energien

Die baden-württembergische Landesregierung hat sich demgegenüber seit Jahren negativ profiliert als Bremser der Energiewende:

- Der Konzentrationsprozess der Stromwirtschaft wurde von ihr voran­getrieben, zu Lasten der kommunalen Energiewirtschaft und auf Kosten zahlreicher Arbeitsplätze;

- Die Umsetzung des Erneuerbaren Energie-Gesetzes wurde gezielt unter­miniert, indem sie unerträgliche administrative Hürden gegenüber dem Ausbau der Wind- und Kleinwasserkraftnutzung aufgebaut und besonders gegen die Windkraftnutzung kampagnenmäßig und vielfach rechtswidrig zu Felde zieht;

- Den Atomenergieausstieg will sie rückgängig machen, indem sie gemein­sam mit den vier großen deutschen Stromkonzernen die Laufzeitverlänge­rung der Atomenergie verficht.

Die Forderung nach einer Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke begründet Ministerpräsident Oettinger damit, dass

- damit „Zeit gewonnen“ werden solle für die Einführung erneuerbarer Energien. Diesem Argument fehlt jegliche Glaubwürdigkeit, weil die Landesregierung bisher schon alles versucht hat, die Alternativen zur Atomenergie klein zu halten - und auch keinerlei Bereitschaft zeigt, künftig die Genehmigungsblockaden gegenüber Windkraft- und Kleinwasserkraft­anlagen aufzugeben,

- das Potential der erneuerbaren Energien nicht ausreiche, um den Atomstrom­anteil in Baden-Württemberg (über 50%) zu ersetzen. Dieses Argument ist nicht nur falsch, sondern auch verräterisch. Es macht deutlich, dass es der Landesregierung nicht nur um die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke geht, sondern um ein weit darüber hinausgehendes Fest­halten an der Atomenergie.

Bei der Frage, ob Atomenergie oder Windkraft gefördert werden sollen, entscheiden sich CDU und FDP nach wie vor für die Atomenergie – trotz aller damit verbundenen umfassenden gesellschaftlichen Risiken und Folgekosten.

Atomstromersatz in Baden-Württemberg: Schnell, vielseitig und dezentral realisierbar

Tatsache ist, dass keine Energieform in Baden-Württemberg schneller einführbar ist als erneuerbare Energien in dezentralen Anlagen. Sie können den Atomstrom­anteil in Baden-Württemberg parallel zum bis 2021/22 zu realisierenden Atomaus­stieg vollständig ersetzen. Windkraft-, Solar-, Bioenergie und Kleinwasserkraft­anlagen sind im Zeitraum weniger Tage und Wochen installierbar:

- 2.000 Windkraftanlagen mit einer Kapazität von je 4,5 MW könnten 20 Mrd. Kilowatt-stunden im Lande erzeugen, entsprechend knapp 30 Prozent des gegenwärtigen Stromverbrauchs. Die Leistungsklasse dieser Windkraftanlagen ist teilweise auch grundlastfähig. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg stehen über 20.000 Hoch-spannungsmasten, von denen ein Großteil abgebaut werden kann, wenn Großkraft-werke durch Windkraftanlagen und andere Anlagen erneuerbarer Energien ersetzt werden. Die ambitionierte Windkraftnutzung führt also zu Landschafts­gewinnen.
Politische Voraussetzung dafür ist, das Landesplanungsgesetz außer Kraft zu setzen, das willkürlich den Bau von Windkraftanlagen behindert und dabei insbesondere Nabenhöhen für Windkraftanlagen der 4,5 MW-Klasse (und damit die höhere Anlagen- und Standorteffizienz) ausschließt. Auch die auf dem Landesplanungsgesetz beruhenden restriktiven Regionalpläne müssten dementsprechend geändert werden, zumal sie ohnehin im Wider­spruch zum Bundesbaugesetz stehen. Stattdessen ist eine Standort­rahmenplanung für Windkraftanlagen in Baden-Württemberg notwendig, die alle windgünstigen Standorte entlang der Bundesfernstraßen und der Eisenbahnlinien erfasst und zu Vorranggebieten macht.

- In Baden-Württemberg gibt es gegenwärtig 1600 Kleinwasserkraft­anlagen. Die Wasserkraftnutzung insgesamt ergibt gegenwärtig 4,6 Mrd. Kilowattstunden. Im Jahr 1900 gab es in Baden und Württemberg 4500 Wassertriebwerke mit einer durch-schnittlichen Kapazität von etwa 70 KW. Auf der Basis neuer Technologien ist daraus eine Leistungssteigerung auf bis zu 500 KW praktisch möglich geworden. Eine Untersuchung der Universität Stuttgart empfahl 1989 der damaligen Regierung Späth die Ver­gabe von 900 neuen Wasserkraft-Nutzungsrechten. Dieser Empfehlung folgten keine Taten.

Bei einer Vergabe von 2900 neuen Wassernutzungsrechten gemäß der Zahl von 1900 und auf der Basis leistungsfähigerer Technik ergibt sich hieraus eine installierbare Zusatzkapazität an Wasserkraft von mindestens 1000 MW, womit der Wasserkraftanteil in Baden-Württemberg mehr als verdoppelt werden kann. Dieses Potential ist durch-gängig grundlastfähig. Voraussetzung hierfür ist ein Abbau der Genehmigungshin-dernisse.

- Bis zum Jahr 2020 ist es realisierbar, die hydrothermale Geothermie im Oberrhein-graben mit einem ermittelten Potential von 1000 MW elektrischer Nennleistung zu aktivieren, mit großer Wahrscheinlichkeit auch weitere 2000 MW mit der HotDryRock-Technologie ebenfalls im Oberrheingraben sowie weiteren Kapazitäten in der Molasse (Sedimenten in Außen- und Innensenken von Gebirgen wie der Schwäbischen Alb) von 300 bis 500 MW. Dieses Potential ist wiederum generell grundlastfähig und wäre bei Vollausbau allein in der Lage, die Leistung der gegenwärtigen Atom­kraftwerke größtenteils zu ersetzen und darüber hinaus einen Beitrag zur Deckung des Wärme-bedarfs zu übernehmen. Das bis 2020 realisierbare Potential liegt bei 10-15 Mrd. Kilowattstunden jährlich.

- Bei unveränderter Einführungsdynamik der photovoltaischen Strom­erzeugung ist in Deutschland eine Gesamtkapazität von 30.000 MW mög­lich, was anteilmäßig in Baden-Württemberg etwa 4000 MW ausmachen würde. Dies entspricht einer Kraft-werksersatzleistung von etwa 1000 MW und einer Jahresproduktion von vier Mrd. Kilowattstunden, die vorwiegend zur Deckung des Bedarfs von Spitzenstrom in der Tageslastspitze einsetz­bar ist, was den tatsächlichen Wert des Solarstroms widerspiegelt.

- Über die Kraft-Wärme-Kopplung hat Baden-Württemberg gegenwärtig nur einen Anteil von 9% der Stromproduktion. Dieser Anteil lässt sich, dem Bei­spiel der Niederlande folgend, in weniger als einem Jahrzehnt verdrei­fachen. Dabei kann ein stetig wachs-ender Anteil der dafür eingesetzten Energie durch die Bioenergie gestellt werden (vor allem Biogas aus organi­schen Abfällen, landwirtschaftlichen Reststoffen und teilweise Energie­pflanzen). Die Bioenergie eignet sich auch für den Einsatz in Hybrid-Anlagen, die an Windkraftanlagen gekoppelt sind und in windschwachen Zeiten die Strompro-duktion übernehmen.

In der Summe ergibt sich daraus allein für die Stromproduktion, dass der 55%ige Anteil des Atomstroms in Baden-Württemberg bis zum Ende der vorgesehenen Laufzeiten der vier noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke Neckarwestheim I (voraussicht-liche Abschaltung 2008), Philippsburg I (2011/12), Philippsburg II (2018) und Neckar-westheim II (2021/22) vollständig durch erneuerbare Energien, geothermische Energie durch Kraft-Wärme-Kopplung ersetzt werden können, ohne dass neue fossil betriebene Großkraftwerke erforderlich wären.

Baden-Württemberg hat gegenwärtig einen Stromverbrauch von etwa 70 Mrd. Kilowatt-stunden, mit einem Atomstromanteil von 55%. Allein mit den bis Anfang der 20er Jahre bei klarem landespolitischem Willen realisierbaren Strom­potentialen aus erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung (mit und ohne Bioenergie) – Windkraft bis zu 20 Mrd., Photovoltaik bis zu 4 Mrd., Wasserkraft 10 Mrd., Geothermie mindestens 15 Mrd., Kraft-Wärme-Kopp­lung bis zu 18 Mrd. Kilowattstunden (davon etwa zur Hälfte aus erneuer­baren Energien) – würden sich über 67 Mrd. Kilowattstunden ergeben. Selbst wenn nur zwei Drittel davon realisiert würden, ergäbe das eine volle Ersatz-leistung für alle Atomkraftwerke und darüber hinaus für einige fossile Kraftwerke.

Wenn wir davon ausgehen, dass über die Steigerung der Geräteeffizienz generell ein jährlicher Effizienzzuwachs von 1% zustande kommt, ist das Ziel der Ablösung der Atomkraft und einer gleichzeitigen Reduzierung fossilen Energieeinsatzes umso leichter (und sogar schneller) realisierbar. Einhergehend damit würde erfolgen

- ein großer Sprung in der Effizienz des Energiesystems insgesamt, weil mit dem Ersatz weniger Großkraftwerke viele Energietransportverluste vermie­den werden,

- eine breitere Eigentumsstreuung in der Stromproduktion, mit Stadtwerken und Privat-betrieben, und damit ein mittelstandsfördernder und die Kommunen stärkender Effekt.

- ein über die Bioenergie, die Kraft-Wärme-Kopplung und die geothermische Energie-nutzung angestoßener Effekt für die Minderung fossilen Energie­einsatzes im Bereich der Wärmebereitstellung - neben den Effekten, die sich über energetische Altbau-sanierung und solarthermische Wärme­nutzung ergeben, und in Verbindung mit einem umfassenden Auftrags­programm für das Handwerk und für landwirtschaftliches Wachstum und damit verbundenen neuen Arbeitsplätzen.

Die wirtschaftlichen Träger dieser Entwicklung sind in erster Linie Stadtwerke und private Erzeuger und Erzeugergemeinschaften. Auf der landespolitischen Ebene geht es in erster Linie darum, die bürokratischen Genehmigungs­hürden in der Landesgesetz-gebung und in Landesverordnungen zu beseiti­gen und die Geneh­migungsverfahren für die Windkraft, die Wasserkraft und die Bioenergie zu straffen. Hierfür ist eine Schieds-stelle auf der Landesebene einzuführen, die öffentlich verhandelt und in Streitfällen zu entscheiden hat. Im Landesnaturschutz­gesetz muss festgehalten werden, dass die Nutzung erneuer­barer Energien die Belange des Naturschutzes prinzipiell wegen der Vermeidung von die gesamte Ökosphäre beeinträchtigenden Emissionen fördert. Darüber hinaus muss die Aus­bildung des Handwerks- und Ingenieurwesens und der Land- und Forstwirte für ihre Aufgaben im Rahmen der Energiewende profiliert werden.

 

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